Welche Rolle spielt Philosophie im Berufsleben eines Unternehmensberaters? Was erwartet die Studierenden im Modul Philosophie und Führung? Inwieweit kann der philosophische Blick helfen, neue Zukunftsnarrative zu entwerfen oder bestehende Narrative zu entschlüsseln?
Wir sprachen mit Lars Immerthal, Unternehmensberater und Philosoph.
Dr. phil. Lars Immerthal ist Dozent im Modul Philosophie & Führung im Witten MBA, welches zusammen mit Univ.-Prof. Dr. Birger Priddat angeboten wird.
Lieber Herr Dr. Immerthal, Sie sind Unternehmensberater – und promovierter Philosoph. Wie hilft Ihnen persönlich dieser Hintergrund bei Ihren Projekten?
Mich als Philosophen zu beschreiben, fällt mir schwer. Ich würde mich eher als philosophisch gebildet bezeichnen. Als solcher bewege ich mich zwischen den Welten der Philosophie und der Wirtschaft. Die Bildung, die ich aus dieser Wanderung zwischen den Welten der Wirtschaft und der Philosophie erhalte, lasse ich immer in meine Projekte einfließen, gerade wenn es sich um Strategie- oder Organisationsprojekte handelt. Das mache ich bei der Beratung nicht zum Thema, auch wenn meine Umgebung es vielleicht wahrnimmt. Aber es hilft mir enorm, andere Perspektiven einzunehmen, mich aus einem Denken in Sachzwängen zu befreien und beweglich zu bleiben.
Unternehmen, die Sie beraten, haben meist konkrete, dringliche Herausforderungen, etwa rund um Risikomanagement, Effizienzsteigerung, oder Reorganisation. Welchen Mehrwert, welchen Sinn kann Philosophie, die ja stärker nach Fragen als nach Antworten sucht, in diesem pragmatischen Zielsystem stiften?
Diese Sinnstiftung funktioniert meiner Erfahrung nach in zwei Schritten. Das kann ich am Beispiel „Nachhaltigkeit“ klar machen: Erstens, indem sich ein Unternehmen über die eigenen Sachzwänge klar wird, insbesondere innerhalb des vorgebebenen Zielsystems, von dem Sie sprechen. Und dann geht es mittel- und langfristig um das Selbstverständnis des Unternehmens. Also darum, sich in der Welt von morgen erfolgreich bewegen zu können. In einer Welt, in der sich womöglich der Handlungsrahmen verändert hat.
Können Sie das etwas näher ausführen?
Gerne. Zum ersten Schritt: Wenn ich mit Unternehmer:innen über Nachhaltigkeit spreche, dann stehen in erster Linie Effizienz oder Effektivität im Vordergrund der eigenen Wahrnehmung. Und das ist auch verständlich vor dem Hintergrund gegebener Sachzwänge. Denn diese bedeuten, Kosten zu reduzieren, Gewinne zu maximieren und gesetzliche Anforderungen erfüllen zu müssen. Dann geht es z.B. darum, den CO2 und Energieverbrauch zu reduzieren oder die Supply-Chain, gerade vor dem Hintergrund des Lieferkettengesetzes, zu optimieren. Das geht auch mit dem Aufbau oder der Erweiterung eines strategischen Risikomanagements einher, da globale Lieferketten einwandfrei funktionieren müssen, um die Produktion gewährleisten zu können.
Risiko Management stellt auch kluge Fragen an das Unternehmen, um mögliche Szenarien für die Zukunft eruieren und entsprechend reagieren zu können. Eine dieser Fragen lautet immer: „Können wir und wollen wir so weitermachen? Und was passiert dann?“ Das bringt uns dann zu zweiten Schritt. Denn beim Thema Nachhaltigkeit müssen sich Unternehmen strategisch neu positionieren. Und zwar nicht einfach, indem sie gesetzliche Anforderungen erfüllen, sondern sich fragen, welche Rolle sie in der Welt des Klimawandels spielen wollen, gerade wenn sich der Handlungsrahmen verändert. Dieser verändert sich nicht nur durch gesetzliche Anforderungen, sondern auch durch einen gesellschaftlichen, sehr diversen Wertewandel in unterschiedlichen Kulturen, durch Technologien, aber auch durch neue geopolitische Bedingungen.
Wertewandel in unterschiedlichen Kulturen, durch Technologien, aber auch durch neue geopolitische Bedingungen.
Bei dieser Fragestellung kann auch die Philosophie ihre Stärken ausspielen. Ich denke in diesem Zusammenhang an einen Philosophen wie Bruno Latour, der mit seinen Arbeiten zu Gaia (Mutter Erde) uns auffordert, eine Alternative zu den gegebenen Weltanschauungen der Moderne zu finden, die zu der Zerstörung des Planeten beigetragen haben. Bruno Latours Philosophie ist eine Inspiration und ein Weckruf, unser Leben auf der Erde neu zu ordnen. Das bedeutet, dass wir für den uns übriggebliebenen Raum auf der Erde neue Formen des Lebens und damit auch des Wirtschaftens finden müssen. Und Latour weiß, dass das nicht mehr universalistisch funktioniert, sondern mit dem Blick auf all die unterschiedlichen kulturellen und räumlichen Gegebenheiten auf der Erde. Neben all den Fragen nach Effizienz des Wirtschaftens taucht jetzt auch die Frage nach dem guten Leben auf diesem Planeten wieder auf. Nur mit dem Unterschied, dass wir die Antworten darauf nicht mehr vertagen können. Wir müssen wieder den Fokus auf den Lebensraum setzen und neben den Menschen auch die Natur in unser Denken miteinbeziehen, weil wir wissen, wie abhängig wir von ihr sind.
Dieser Weckruf von Latour befreit sich also von gegebenen Weltanschauungen und fragt nach Alternativen? Können das Unternehmen denn leisten?
Zweimal ja. Lassen Sie mich das kurz erläutern: Wenn Sie also nach der Sinnstiftung der Philosophie in einem pragmatischen Zielsystem wie der Wirtschaft fragen, dann geht es aus einer philosophischen Perspektive um die Aktualisierung von Möglichkeiten. Gegebene Möglichkeiten oder eben in Form von Innovationen (neue Materialien, Prozesse, Digitalisierung, Wertvorstellungen). Das ist übrigens ein viel stärkerer Anreiz für Unternehmen, als über Verbote den Handlungsrahmen einzuschränken. Und das ist auch die Sprache, die ein kluges Unternehmen versteht, da es darin geübt ist, die gegebenen oder selbst neu geschaffenen Möglichkeiten (Innovationen) einer Tauglichkeitsprüfung zu unterziehen. Einschließlich dem übergeordneten Zielsystem der Wirtschaft selbst. Das Zielsystem kann natürlich kein Unternehmen alleine verändern. Aber es kann sich im gesellschaftlichen Diskurs engagieren und seine Rolle darin klären. Ob das alle Unternehmen leisten können? Kluge Unternehmen sehen die Notwendigkeit. Andere Unternehmen werden es einüben müssen.
Teil dieser Klugheit ist, die unterschiedlichen Szenarien gegenüberstellen und deren mögliche Konsequenzen abwägen zu können. Und das ohne direkt einen Favoriten zu benennen, weil man z.B. aus dem eigenen Selbstverständnis oder der starren Überzeugung heraus zu wissen glaubt, was richtig für die Zukunft sei. In diesen Prozess müssen auch ganz unterschiedliche Fachbereiche miteinbezogen werden. Wenn ich mich auf dieses Spiel einlasse, dann gehen wir in einen argumentativen Wettbewerb, der deutlich besser begründbare Entscheidungsoptionen bietet.
Wie wichtig das sein kann, haben wir ja in der Pandemie gesehen, wo genau diese Form der Verständigung zwischen unterschiedlichen Standpunkten und Fachbereichen nie wirklich zum Tragen kam. Eine Strategie, die es sich nicht leisten kann oder will, Reflexion und Diskurs parallel mitlaufen zu lassen, bezeichne ich gerne als dominant, gerne auch ignorant (lacht), da sie bewusst Alternativen und Möglichkeiten ausklammert oder von einem nicht funktionierenden Selbstverständnis ausgeht. Bei mir bekommt dann auch aus dieser Perspektive der arg strapazierte Begriff der Diversität einen anderen Anstrich. Denn Diversität bedeutet aus dieser Perspektive, unterschiedliche Standpunkte und Denkweisen in Bewegung zu halten, um bei Ungewissheiten und prekären Situationen, die Sie oben aufgezählt haben, möglichst viele Handlungsalternativen und Lösungen parat zu haben. Und das ist natürlich sehr herausfordernd für eine Führungskraft.
Von Führungskräften wird zunehmend Offenheit und Partizipation erwartet. Gleichzeitig sollen sie weiterhin richtungweisend und souverän handeln. Kann man eine Richtung weisen, wenn die Zukunft sich immer mehr unseren Prognosen entzieht?
Eine solche Erwartung kann natürlich das Selbstverständnis und die Autorität einer Managerin in Frage stellen. Ganz besonders, wenn ein Manager davon ausgeht, als Souverän handeln zu sollen und zu können. Aber das sind ja meist Zuschreibungen von außen oder Inszenierungen von Rollen, die weder dem Manager noch dem Unternehmen in prekären Situationen der Ungewissheit helfen. Außerdem ist das Zuhören Können und damit das Signalisieren von Offenheit und Anteilnahme eine äußerst unterschätzte Eigenschaft, die überhaupt nicht im Widerspruch dazu steht, Orientierung geben zu können. Allerdings resoniert die Orientierung, die ein Manager geben kann auch auf den Signalen seiner Umgebung.
Man kann sich die von Ihnen beschriebene Situation auch als eine Erzählung oder ein Theaterstück vorstellen, dessen Ende offen ist. Eine Managerin hat dann die Aufgabe, nicht einfach das Drehbuch alleine zu schreiben, sondern die Geschichte im Austausch mit dem Ensemble weiterzuerzählen. Aber sie diskutieren unterschiedliche Erzählungen mit unterschiedlichen möglichen Enden und probieren diese gemeinsam im Ensemble aus. Spielen und Ausprobieren sind unerlässlich. Und dafür brauchen Sie Räume im Unternehmen, in denen das Spielen gerne zugelassen wird.
An dieser Stelle ist Philosophie eine wunderbare Rategeberin, weil sie in solchen Situationen nicht erstarrt, sondern versucht in Bewegung zu bleiben, wie z.B. die Figur des Seiltänzers bei Friedrich Nietzsche. Übrigens – das habe ich neuerdings in einer Witten MBA-Masterclass (als Webinar) erwähnt: „Führen“ hat etymologisch eine Verwandtschaft zu dem deutschen Wort „fahren.“ Manager setzen, wenn sie führen, etwas in Bewegung. Dabei behalten sie aber immer etwas Verspieltes bei sich und im Unternehmen.
Im Witten MBA intervenieren Sie bei Führungskräften, die größtenteils kaum Berührungspunkte mit der Philosophie hatten. Wie gehen Sie damit um? Was erwartet die Studierenden im Modul „Philosophie und Führung“?
Ich glaube das wird klarer, wenn ich Ihre zweite Frage zuerst beantworte. Zur Vorbereitung lesen die Studenten philosophische Texte, die wir dann in unserem dreitägigen Seminar gemeinsam und in verschiedenen Workshop-Formaten diskutieren. Wir können inhaltlich natürlich nicht das gesamte Spektrum der Philosophie kennenlernen. Aber die Texte, die wir lesen, bieten einen Zugang zu aktuellen sozioökonomischen Herausforderungen und Fragestellungen, mit denen jeder schon konfrontiert wurde: Wir diskutieren z.B. über Hannah Arendts Perspektive auf den Begriff der Arbeit, insbesondere mit der Frage nach dem gelungenen Leben. Mit Michel Foucaults beschäftigen wir uns mit der „Sorge um uns selbst,“ und den damit verbunden Versuchen, sich von Sachzwängen und Abhängigkeiten zu befreien. Oder wir sprechen über die Bedeutung von Emotionen wie z.B. den Zorn, über den Peter Sloterdjik eine sehr spannende Arbeit geschrieben hat. Gerade weil Zorn nicht etwa ungerichtet stattfindet, sondern sich aufgrund einer wahrgenommenen Ungerechtigkeit ereignet und als Katalysator für Transformationen fungiert. Auch beschäftigen wir uns mit KI, Nachhaltigkeit oder mit dem Medium Geld. Und am Ende des Semesters müssen dann alle Studenten eine Arbeit in Form eines Essays schreiben, bei der sie die für sie wichtigen Fragen aus dem Wirtschaftsleben mit einem philosophischen Blick klären sollen.
Damit wären wir dann auch bei der Beantwortung Ihrer zweiten Frage. Denn wir stellen mit allen Texten und Diskussionen eine direkte Verbindung zu dem Berufsalltag der Studierenden her. Allerdings mit einer oftmals sehr ungewohnten Perspektive, die aber als bereichernd und inspirierend empfunden wird. Genauso lernen die Studenten, mit Zweifeln produktiv umzugehen. Und es gibt auch Irritationen, denen interessante Diskussionen folgen. Und das empfinde ich als besonders spannend. Denn dann müssen die Studierenden über das, was sie bisher zu wissen glaubten, hinausgehen. Im besten Fall erweitern wir das Vermögen der Studierenden, ihre Arbeitswelt in einer für sie konstruktiven Weise zu interpretieren und sich darin besser orientieren zu können. Oder noch besser: Sie lernen, eigene Alternativen und Orientierungen ganz im Sinne eines Unternehmers zu entwickeln. Das sind besonders wichtige Fähigkeiten und eine Form der Bildung, sich in einer Welt zurecht zu finden, bei der unser Wissen von heute und gestern nicht immer hilfreich für das Morgen ist.
Ich kenne und schätze Herrn Professor Priddat schon seit meiner Zeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie von Herrn Professor Röttgers (Herr Röttgers und ich haben damals die Weiterbildung „Wirtschaftsphilosophie“ geleitet, die sich ebenfalls an Führungskräfte in der Wirtschaft richtete). Ich weiß, dass Herr Priddat die Erfahrung schätzt, die ich in all den Jahren in der Wirtschaft sammeln konnte. Dadurch kann ich die Herausforderungen der Praxis mit Fragestellungen der Philosophie in Verbindung bringen; was auch schon meine Rolle im angebotenen Studiengang beschreibt. Herr Priddat ist ja ebenfalls in beiden Welten (Philosophie und Volkswirtschaftslehre) zuhause, was gerade auf der wissenschaftlichen Ebene seltener der Fall ist. Was ich neben seinem ungeheuer großen Wissen um die Theorie der Ökonomie und der Philosophie sehr schätze, ist seine Art, im persönlichen Gespräch oder auch vor und mit Publikum seine Gedankenwelt zu entfalten und neue Ideen zu entwickeln. Und indem wir unterschiedlich Praxis und Theorie in unseren Gedanken betonen, komplementieren wir uns sehr gut. Interessant für die Studierenden ist außerdem, dass Herr Priddat und ich nicht immer einer Meinung sind und auch mal unterschiedliche Standpunkte vertreten. Entsprechend geben wir auch nicht vor, dass es für alles eine eindeutige Erklärung gibt und stellen alles in Frage.
Da wären wir beim Motto des Witten MBA: „question everything“… Im Witten MBA werden Studierende ermutigt, Zukunft zu gestalten. Lassen sich Zukunftsnarrative aus dem Blickwinkel der Philosophie entwickeln?
In jedem Fall hilft Philosophie, gängige Narrative zu entschlüsseln und ihre Tauglichkeit zu prüfen. Gerade, wenn wir glauben unsere Welt kontrollieren und uns einen totalen Überblick verschaffen zu können, dann weiß die Philosophie um die Zerbrechlichkeit und die blinden Flecke unserer Annahmen. Damit klar zu kommen gelingt Philosophen oftmals viel besser, weil sie ihre Zweifel und Ungewissheiten fruchtbar machen können.