In den 90er Jahren ist der Trend der „Humanisierung der Organisation“ gestiegen. Schon damals stand die Frage nach der richtigen Gestaltung von Arbeitsbedingungen und Arbeitskultur weit oben. Was ist eine zeitgemäße Antwort auf die Frage, wie Organisationen humanisiert werden können?
Wiebke: Ich weiß nicht, ob sich der Blick geändert hat. Was sich verändert hat, ist der Anspruch an Organisationen, humaner zu sein. Durch Work-Live-Balance-Argumente oder die Purpose-Bewegung wird versucht, den Menschen und Attribute des Individuums in den Mittelpunkt zu rücken. Im Umkehrschluss muss man aber erkennen, dass viele Konsequenzen, die sich davon ableiten, genau das Gegenteil beweisen. Flexibilisierung der Arbeitszeit führt beispielsweise zu einer Entgrenzung von Arbeitszeit. Wenn Eltern ein Angebot gemacht wird, von 7-14 Uhr zu arbeiten, um sich nachmittags um die Kinder zu kümmern, führt es eher dazu, dass sie spät abends noch aufholen, was sie vermuten, nachmittags verpasst zu haben.
Daneben führt der Anspruch, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, eigentlich zu einer Kapitalisierung des Individuums für die Organisation. Der Weg sollte also eher sein, dass die Verhältnisse der Organisation thematisiert werden und daran etwas geändert wird.Bennet: Das Buch „die Humanisierung der Organisation“ (Matthiesen, Muster, Laudenbach 2022) ist tatsächlich ein Plädoyer gegen die Übergriffigkeit der Arbeitgeberorganisation gegenüber dem Menschen. Die Kolonisierung des Privaten durch die Organisation gilt es zurückzudrängen und anzuerkennen, dass der Mensch Arbeitskraft einbringt, aber sich nicht gesamt einbringen muss. Denn das ist ein Anspruch, der fehlleitet und gegen den man sich wehren darf und muss.
Wie schaffen wir es, offen für lebenslange Lernprozesse zu sein?
Bennet: Beratungsarbeit zeichnet aus, dass wir uns immer wieder in neuen Themen, Organisationen und Konstellationen begegnen und uns mit diesen neu und anders auseinandersetzen müssen, denn die Welt entwickelt sich weiter. Allein dadurch, dass wir als BeraterInnen in Organisationen unterwegs sind und mit Organisationen arbeiten, sind wir herausgefordert, immer wieder neu hinzuschauen und neu zu lernen, um dann gemeinsam mit den KundInnen Antworten zu finden. Daneben zeichnet unsere Akademie aus, dass unsere Berater:innen auch immer selbst mit den Themen konfrontiert sind, mit denen auch die Teilnehmenden konfrontiert sind. Dadurch können Dinge aus eigener Anschauung vermittelt werden und auch das ist ein guter Schritt zum lebenslangen Lernen.Wiebke: Ganz konkret braucht es für lebenslange Lernprozesse zwei Dinge. Zum einen muss man Sachen in Frage stellen können und auch dürfen. Das ist nicht nur im akademischen Kontext relevant, sondern auch für Unternehmen. Es muss also die Bereitschaft geben, auf oberster Ebene Annahmen, die man vielleicht auch selber getroffen hat, wieder in Frage zu stellen oder sie von anderen Stellen der Organisation in Frage stellen zu lassen. Dazu muss man aber auch zuhören können und Arenen schaffen, in denen das Ringen z.B. über Strategie und Markt überhaupt möglich ist.
Ich würde mich gerne mit Euch noch weiter zu dem Thema Führung bewegen. Wie führen wir heute und was sind wichtige Faktoren für eine gute Führung?
Bennet: Wir haben einen Führungsbegriff, der sich von einem heroischen Führungsverständnis, in dem Führung als etwas sehr Besonderes gesehen wird, abwendet. Anstatt das Individuum in den Vordergrund zu stellen, thematisieren wir die Spannung zwischen der Organisation und den Führungsverantwortlichen. Dazu heißt Führung nicht, als erstes immer Antworten zu geben. Man kann Führung eher als Interaktion oder Ausnahmetatbestand erfassen, wo wir sagen: Bevor in Organisationen ständig kritische Momente entstehen, in denen jemand in Führung gehen oder heikle Entscheidungen treffen muss, sollten Strukturen geschaffen Orientierung und Klarheit geben. Es bleiben schon noch genügend schwierige Themen übrig, die Führung brauchen. Auch mit dieser Annahme kann man gegen den Strich bürsten.
Lässt sich im Umkehrschluss sagen, dass hierarchisch strukturierte Organisationen träger sind?
Wiebke: Unser Führungsverständnis geht nicht gegen gelebte Organisationspraxis und heißt auch nicht, dass Hierarchie schlecht ist. Im Gegenteil; es gibt gute Gründe zu sagen, dass Hierarchie funktioniert. Doch Hierarchie und Führung sind nicht dasselbe. Wir konzentrieren uns eher auf den Fall, in dem in Organisationen zu viel geführt wird, also zu viel im Feuerlöschmodus agiert wird. Dann schauen wir, welche Strukturen geschaffen werden können, damit Führung eine Ausnahme bleibt, weil es Orientierung und klare Rahmenbedingungen gibt.
Im Witten MBA arbeitet ihr viel mit Fallbeispielen aus der Praxis der Studierenden. Welche Kernthemen behandelt ihr dort?
Wiebke: Viele der Studierenden arbeiten in Organisationen, wo sie an Innovationsthemen oder zu Strategieentwicklung mitarbeiten. Jenseits der Frage, wie so etwas funktioniert, ist auch ein großes Thema, dass Innovationen schließlich auch in Organisationen Fuß fassen müssen. Man muss also aufpassen, nicht an der Organisation vorbei zu innovieren. Dabei geht es viel um Mikropolitik und die Frage welche Interessen berücksichtigt werden müssen, um in der Organisation anschlussfähig zu sein und in ihrer eigenen Arbeit voranzukommen.
Was bedeutet für Euch Zukunft gestalten, insbesondere in Hinblick auf strategische Organisationsentwicklung?
Bennet: Für strategische Organisationsentwicklung und Zukunftsgestaltung braucht es jemanden in einer Organisation, der oder die etwas will, denn von alleine passiert meist erst einmal nichts. Dann gilt es, gemeinsame Diskurse so zu führen, dass Akteur:innen hinter die Idee gebracht werden. Ich plädiere für den Mut zur Auseinandersetzung, den Mut zum Diskurs und den Mut zum Widerspruch, um Dinge nach vorne zu bringen und etwas zu bewegen, anstatt Gefolgschaft zu verordnen.Wiebke: Diskurse sind genau dafür da, herauszufinden, wie weit man gehen kann und in welchen Grenzen man sich bewegt. Zudem geht es insbesondere um den Gestaltungsaspekt. Und Gestaltung heißt eben, Dinge voranzutreiben und dabei auch in Kauf zu nehmen, dass man sich die Finger verbrennen kann.