Magazin

"Wirtschaft muss komplexer werden."

Lieber Andreas,

Du bist am WittenLab der Universität Witten/Herdecke (UW/H) tätig. Als Leiter des Projekts sieben-viertel.de schlägst Du eine wichtige Brücke zwischen Universität und Stadtgesellschaft. Nebenher bist Du an dem Transformationsprojekt tra:ce beteiligt.
Wie kommst Du nun zur  ‚Entdeckung der Wirtschaft?
Als Wirtschaftsphilosoph und Historiker habe ich mich viel mit Wissensgeschichte auseinandergesetzt – vor allem mit der Geschichte des Ökonomischen Wissens.
Eine Frage, die mich lange beschäftigt hat, war: Was stellt Kapitalismus mit Gesellschaften an?
In der Gegenwart lässt sich eine solche Frage nicht trennscharf behandeln.
Deswegen war ein historischer Rückblick hilfreich. So bin ich irgendwann auf einen Sachverhalt gestoßen, den wir in Deutschland ziemlich genau markieren können.
Die Initialzündung für kapitalistisches Wirtschaften in Deutschland ist neben dem Fernhandel vor allem der spätmittelalterliche Bergbau.

Hat dieser Standort eine Rolle gespielt – Witten gilt ja als Wiege des Bergbaus im Ruhrgebiet – oder war es reiner Zufall?
Ich habe zuletzt gewitzelt, dass man sich in Witten mit dem Bergbau auseinandersetzen müsste!
Aber meine Herangehensweise war eine ganz andere. Im späten fünfzehnten Jahrhundert hat sich etwas herauskristallisiert, was mir als ein übergreifendes Thema erschienen ist.
Ob beim Bergbau, bei der Seefahrt oder beim Streben nach Kolonien – in gewisser Weise sind damals verschiedene Ausprägungen entstanden, die mit einer neuartigen Raumgewinnungstheorie zusammenhängen.
Man pflegte zunehmend die Hoffnung, dass die Welt gewissermaßen kein konstantes Volumen darstellt, sondern dass man diese vermehren, gewinnen, erweitern könnte. So konnte eine für Landwirtschaft ungeeignete Region plötzlich für den Bergbau interessant werden.

Warum ist es aus heutiger Sicht so wichtig, sich solche Vorstellungen, wie sie in der Frührenaissance entstanden sind, zu veranschaulichen – gerade aus Sicht von Wirtschaft und Gesellschaft?
Das ist ein Erbe, woran wir heute noch knabbern, weil diese Raumgewinnung auf Kosten von Etwas ging: Jahrhundertelang haben wir sie über einen Kredit finanziert – an den Menschen, die wir zum Ziel der Weltgewinnung ausgebeutet haben, ebenso wie an der Natur. Man könnte sagen, dass uns diese Schuldverhältnisse heute in vielerlei Hinsicht einholen.
Zum ersten Mal in der neuzeitlichen Geschichte hat man geglaubt – oder hat glauben machen wollen, dass natürliche Ressourcen nachwachsen und somit unerschöpflich waren. Es war ein gänzlich neuer Unendlichkeits-Diskurs, den man für die Raumgewinnung und Ausbeutung der Erde benutzt hat. 

Dieser neue Diskurs entsteht scheinbar als Bestandteil eines Identitätsfindungsprozesses; in etwa: dem Briten gehört die Seefahrt, dem Deutschen der Bergbau?
Beides korreliert, denn wir sind in einer Phase, wo langsam die Nationalstaatlichkeit als Konzept entsteht. Bis ins achtzehnte und neunzehnte Jahrhundert hinein hat sich bei deutschsprachigen Ökonomen, sinngemäß, folgendes Mantra gehalten: Was kann der deutschsprachige Raum besser als andere, konkurrierende Länder innerhalb Europas? Schätze aus der Erde holen! Und tatsächlich hat die Ausbeutung irdischer Ressourcen über Jahrhunderte eine zentrale Rolle hierzulande gespielt. Entsprechend prominent war das Lob des Bergbaus innerhalb der damaligen Wirtschaftstheorie. 

Ausgehend von Darstellungen, wie unter anderem dem Titelbild Deiner Publikation, zeigst Du auf, wie eine neuartige Unendlichkeit aus den Tiefen der Erde greifbar wird. Welche Rolle spielen Repräsentationen für unser heutiges Verständnis von Wirtschaft?
…eine interessante Frage, zu der ich keine eindeutige Antwort habe. Es gibt definitiv eine Verbindung beispielsweise zwischen dem Aufkommen von Wimmelbildern als einem ikonographischen Stilmittel und der regionalen Durchsetzung kapitalistischer Organisationsformen.
Nach dem mittelalterlichen ordo (einer Ordnungsgesellschaft, in der jeder seinen festen Platz hatte) entstanden innerhalb Europas zunehmend Landstriche und Lebensräume in stetiger Bewegung – eine Gesellschaft des ständigen Gewimmels und des Partikularen, in der neue Dynamiken hervorgebracht und Flussgleichgewichte aufrechterhalten werden konnten und mussten.
Mit Blick auf die Repräsentationsfrage ist auffällig, dass die Ökonomik schon früh ein Interesse an Quantifizierung entwickelt – etwa durch Zahlen, Tabellen und Listen.
Bald erscheint das Bild nicht mehr als ein geeignetes Medium, um kapitalistisches Wirtschaften aufzufangen.
Spätestens mit den Physiokraten etabliert sich eine Art modellhaften Denkens, das die Wirtschaftstheorie bis heute prägt.
Fortan sind Listen und quantifizierte Zahlennotationen gut geeignet, um kapitalistisches Denken in Repräsentationen zu holen – anstelle des statischen Bildraums.

Bald konstituiert sich ein dehnbarer, nahezu grenzenloser Wirtschaftsraum. Doch heute sind wir Begrenzungen ausgesetzt – angefangen mit planetaren Grenzen. Müssen wir die Wirtschaft neu entdecken? Ist es das Ende der Unendlichkeit?
Ich glaube, wir kommen nicht umhin, die Wirtschaft neu zu entdecken. Das sechzehnte Jahrhundert entdeckt vier Unerschöpflichkeits-Fantasien.
Eine davon ist die Unerschöpflichkeit von Mutter Erde; das ist das Hauptanliegen meiner neuesten Publikation.
In Mittel- und Norditalien entsteht die Idee der unendlich verfeinerbaren menschlichen Künste.
Im französisch-calvinistischen Diskurs etwa an der Atlantikküste entsteht die Idee einer ewig entwickelbaren Welt. Diese Idee wird insbesondere als Legitimationsformel bei der Kolonialisierung verwendet. Man begründete die Landnahme und den Eingriff in fremde Lebensräume mit dem vermeintlichen Nutzen und Fortschritt, den die eigene Präsenz für die indigene Bevölkerung mit sich brächte. Der vierte Diskurs kann insbesondere in Flandern veranschaulicht werden: Nämlich die Vorstellung, dass der Mensch unendliche Bedürfnisse hat – was wiederum einen unendlichen Raum kommerzieller oder merkantiler Operationen versprach.
Aus heutiger Sicht sind diese vier Formeln unterschiedlich problematisch. Einige Diskurse können so gut wie ungehindert weiterlaufen, andere nicht – die Vorstellung ewig verfeinerbarer Künste etwa schlägt nicht an so eine harte Grenze, wie die Ressourcenfrage.

Gegenwärtig versucht die Wissenschaft, Transformationen zu begleiten – etwa mit dem Transformations-Center ‚tra:ce‘ an der Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft. Wie man sich wirtschaftlich weiterentwickeln und trotzdem die Begrenztheit vorhandener Ressourcen mit einrechnen? Sind ‚Degrowth‘ oder Subsistenz-Wirtschaft die Lösung?
Zur gegenwärtigen Situation würde ich sagen: Viele der neuzeitlichen Institutionen, die uns heute umgeben, basieren nicht nur auf Wachstums-Erzählungen, sondern sie haben das Wachstum zum Bestandteil ihres eigenen Funktionierens gemacht. Das heißt, Wachstum ist nicht und noch nicht einmal in erster Linie ein ökonomisches Problem, sondern Teil verschiedenster gesellschaftlicher Prozesse und Bereiche.
Und gerade weil so viele neuzeitliche politische Formen und Institutionen auf Wachstum beruhen, tendiere ich dazu, Wachstumshorizonte weiterhin zu erhalten und sie zugleich in zirkuläre Muster einzufangen. Wachstumsräume können aus der modernen Linearität rausgenommen werden, um in zirkuläre Formen integriert zu werden – etwa über Recycling oder Sharing.

Dr. Andreas Lingg - UW/H
Dr. Andreas Lingg – UW/H

Verstehst Du tra:ce, das Center for Sustainable and Just Transformation, als Experimentierraum?
Es ist sowohl ein Experimentierraum als auch ein Weg, um gewisse Themen in unserer Universität zu platzieren und sichtbar zu machen. Es geht etwa um die Reflektion von Forschungsmethoden. Nur so können neue Dimensionen, etwa planetare, Teil des eigenen Denkens und Forschens werden.

Zum Stichwort planetare Dimensionen: Nach Latour müssten wir in etwa so denken und handeln, als wären wir im Lockdown – denn wir können diesem Planeten nicht entfliehen. Das klingt nicht besonders verlockend… Was braucht es für ein Umdenken?
Nach der Vorstellung der Unendlichkeit von Ressourcen muss das Narrativ umgeschrieben werden.
Auf der einen Seite werden sich diese Grenzen sehr schnell bemerkbar machen. Ich hoffe, dass wir als Gesellschaft möglichst aus der Freiwilligkeit heraus neue Handlungswege in die Wege leiten und neue Horizonte in den Blick nehmen – bevor planetare Fakten uns dazu zwingen werden. Ob dies uns gelingt, wage ich nicht zu sagen.
Es ist auf jeden Fall wichtig, dass große Teile der Gesellschaft mitgenommen werden – dass wir das miteinander hinkriegen.
Deshalb bin ich gegenüber Bruno Latour in einem Punkt skeptisch: Im Verhältnis zur Ökologie denke ich nicht, dass die Ökonomie sich als ein dienendes, untergeordnetes Element fügen sollte. Man hat es hier mit einer künstlichen, keineswegs notwendigen Opposition zu tun. Ich glaube zudem, dass es wichtig ist anzuerkennen, dass die Erfüllung materieller Wünsche und Träume für viele Leute weiterhin wichtig bleiben wird.
Bei künftigen Weichenstellungen, die idealerweise planetare Grenzen antizipieren, ist es wichtig, dass materielles Wohlbefinden und wirtschaftliche Chancen als Bestandteil einer neuen Gleichung mitgedacht werden.

Die UW/H versteht sich seit ihrer Gründung als ein Ort des Experimentierens. Zugleich wird sozialer Verantwortung auch seit vierzig Jahren eine zentrale Rolle beigemessen. Kommt der UW/H angesichts aktueller Herausforderungen eine besondere Rolle zu?
Die UW/H kann – wie alle anderen Universitäten – eine wichtige Rolle spielen.
Denn der Modus des Wirtschaftens, der uns in die jetzige Situation gebracht hat, basiert sehr darauf, dass gewisse Dinge, Erfahrungs- und Wissensformen eingeschlossen, andere wiederum ausgeschlossen wurden.
Universität kann und muss hier neue Vermengungszustände herstellen.
Das betrifft klassischerweise den Zuschnitt von Lehrbüchern – wenn etwa planetare Einheiten in VWL, BWL, Kunst oder Philosophie mitbedacht werden… Da sind alle Bereiche gefragt!
Hier kann Universität auf verschiedenen Ebenen eine wesentliche Rolle spielen. Die gesellschaftliche Reichweite der Universität in die Gesellschaft hinein, ihre ‚Third Mission‘ jenseits von Lehre und Forschung, ist mir ein besonderes Anliegen.

 Somit wären wir bei Deinem Projekt sieben viertel… Betrachtest Du es als ein weiteres Versuchsfeld? Welche Idee steckt dahinter?
Das sieben viertel sehe ich als eine Chance, neue Vermengungsräume zu schaffen.
Eine Art soziale Alchemie, in der Leute aus verschiedensten Bereichen (beispielsweise aus der Verwaltung, der Zivilgesellschaft oder der Wirtschaft) unter gewissen Vorzeichen in eine neue Begegnung kommen. Ich habe keinen Anspruch auf das, was entstehen soll. Das zu lenken, wäre nur bedingt unsere Rolle als Wissenschaftler:innen. Was mich in diesem Prozess beglückt, ist, zu sehen, dass mit den Menschen etwas passiert.

 Kannst Du näher erläutern, was dort konkret passiert? Was für Begegnungsräume können dadurch entstehen?
Das Projekt umfasst eine ganze Reihe von Seminaren, durchgeführt und geplant mit Organisationen aus der Region, die gegenwärtige Herausforderungen zum Teil der Lehre machen. Studierende und Bürgerinnen können diese Themen gemeinsam behandeln. Ein konkretes Beispiel: der Günnemann-Kotten, ein altes Hofgut in Witten-Rüdinghausen. Seit etwa drei Semestern sind Studierende gemeinsam mit Bürgerinnen damit beschäftigt, dort ein neues Zentrum zu imaginieren und mitzugestalten – etwa für Selbstversorgung mit Gemüseanbau, aber auch als Treffpunkt und Teil des Quartierslebens.

Was heisst für Dich Zukunft gestalten? Und wie könnte eine zukunftsfähige Neu-Entdeckung von Wirtschaft geschehen?
Um zukunftsfähig zu sein, muss Wirtschaft komplexer werden.
Wirtschaft muss mit der Kurz-Horizontigkeit und der großen Menge an ausgeblendeten Dimensionen, die das Wirtschaften über Jahrhunderte geprägt und geleitet haben, brechen.
Wirtschaft muss, in gewisser Weise, mit mehr rechnen können. Das heißt etwa: mit sozialen, planetaren, Folgen.
Um dieses ‚mehr‘ rechnen zu können, sind wir alle gefragt.
Es braucht dafür neue Leitbilder und Diskurse.  Es braucht neue Narrative – Narrative, die uns gesellschaftliche Spiel- und Entwicklungsräume aufzeigen, welche nicht auf Kosten des Planeten gehen. Es braucht aber auch neue Techniken. Es besteht beispielsweise die Möglichkeit, dass K.I. eine positive Rolle spielen kann, wenn auf einmal Prozesse mit mehr rechnen können und gleichzeitig wirtschaftlich bleiben.
Für die Zukunft von Wirtschaft spielen also gesellschaftliche, aber möglicherweise auch technische Dimensionen eine wichtige Rolle.

 

Zum Thema passende Angebote

01.10.2024
Witten MBA – Leadership & Management
14.11.2023
AuditorInnenschulung ZNU-Standard Nachhaltiger Wirtschaften (Nov. 2023)
14.11.2023
Qualifizierung ZNU-NachhaltigkeitsmanagerIn (November 2023)
Magazin