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"Den integrativen und multiplikativen Faktor von Organisationen darf man nicht unterschätzen."

Lieber Matthias Lang, dwarfs and Giants steht für ‘wholesome organizations’; welcher Impuls steckt dahinter?
Wir haben uns vor acht Jahren als Lab gegründet, um an unserer eigenen Haut, aber auch in der Arbeit mit Kundenorganisationen, alternative Entwürfe von Führung und Zusammenarbeit zu entwickeln und ins Leben zu bringen.

Was war Ihnen damals wichtig?
Eine Schwierigkeit war, dass herkömmliche Organisationen mit der Veränderungsgeschwindigkeit oft sehr schlecht zurande gekommen sind.
Klassischerweise wurde alle paar Jahre eine Re-Organisation initiiert. Als man dann halbwegs in der Breite größerer Organisationen angekommen war, war das Konzept schon veraltet.
Denn Organisationen waren auf Stabilität und Effizienz getrimmt. Das steht in einem Zielkonflikt mit dem Wunsch nach Anpassung und Flexibilität.
Ein zweiter Kern-Aspekt von ‚wholesome‘ basiert auf persönlichen Erfahrungen von uns, aber auch auf Beobachtungen darüber, wie es den Menschen ging. 

Hatte es mit einem Unbehagen zu tun?
Wir kamen zu der Einsicht: Das klassische Setup der Management-Organisation-Hierarchie hatte einfach schädliche, unangenehme Nebenwirkungen.
Man bekommt zwar viel dafür – zum Beispiel Effizienz, Klarheit, Umsetzungsgeschwindigkeit – aber es tut den Menschen, die in diesen Organisationen arbeiten, nicht gut.

…Und zwar sowohl bei geführten als auch bei führenden Mitarbeitenden?
Ja, auf jeden Fall!
Wir haben erlebt, dass auch Menschen in Führungsverantwortung, die Kehrseiten dieses Setups ja zusetzen; dass sie sehr gefordert sind.
Natürlich haben sie sich dafür entschieden und ein hohes Schmerzensgeld dafür bekommen – auch Status, Anerkennung oder Sichtbarkeit. Aber oftmals waren sie entweder sehr einsam, oder sie haben sich überfordert gefühlt – und konnten das nicht zugeben. Oder sie haben, um gut überleben zu können, angelernte Muster einfach weiter bedient.

Die Rede ist hier von größeren Organisationen, nicht etwa von Startups. Wie kam es zu einem Umdenken?
Das Problem hierbei war: lange Zeit war es nicht vorstellbar, Organisationen anders zu führen. Es war wie eine Monokultur: Alle Organisationen waren nach einem einheitlichen Strickmuster aufgebaut. Mal angenommen, ich war bei Organisation A tätig und bin zu B gewechselt, und dann von B zu C: Man hat sich sofort wiedergefunden. Auch dort gab es Abteilungsleitungen, Bereichsleiterinnen, Vorstände… Die Spielregeln waren überall die gleichen. Das Controlling war überall das gleiche. Planungsprozesse waren überall die gleichen. Es war austauschbar.
Es war eine Monokultur von Organisationsdesigns. Es hat uns sehr inspiriert, dass die Publikationen von Frédéric Laloux, Brian Robertson, und vielen anderen plötzlich etwas auf den Tisch gelegt und wir gesagt haben: Hey! Wir können das auch anders machen.

 Gab es zuvor keine Beispiele für anders aufgebaute Organisationen?
Sporadisch gab es immer Einzelfälle, wie die Gore-Tex Company, Semco aus Brasilien…

 Oder Ben & Jerry…
Natürlich! Und diese Beispiele kannte man auch. Aber es wurde immer gesagt: Das ist sehr, sehr speziell. Es handelt sich um einen Sonderfall. Bei uns funktioniert das nicht. Mit Laloux war plötzlich Beweismaterial da. Ich glaube, dass die Zeit dafür reif war, dass Menschen sagen: Wir könnten das bei uns in der Organisation ernsthaft probieren. Das war eine Phase des Prototypen-Entwickeln, wo wir versucht haben, in die Umsetzung zu gehen.

Stießen Sie nicht auf Widerstand vonseiten der Führungskräfte?
Wir haben mehrere Führungskräfte erlebt, die zum Ende ihrer Karriere, zum Beispiel vor dem Ruhestand, gesagt haben: ich war mein Leben lang Manager. Ich höre jetzt auf. Und jetzt möchte ich mich gesellschaftlich engagieren. Jetzt möchte ich etwas Sinnvolles machen. Und da haben wir gesagt: Warum ist es ein Widerspruch? Warum muss man entweder Geld machen oder etwas gesellschaftlich Sinnvolles machen?

Geht eine solche Veränderung also mit Überzeugung und gesellschaftlichem Engagement einher?
Natürlich stiften Unternehmen einen wirtschaftlichen Nutzen, sie sorgen für einen gesellschaftlichen Wohlstand und für Arbeitsplätze. Aber immer mehr Menschen wurde klar: Das ist nicht ausgewogen.
Wir glauben sehr daran, dass eine Organisation wirtschaftlich nachhaltig sein kann – in dem Sinne, dass sie gesund wirtschaftet und gleichzeitig einen gesellschaftlichen Beitrag leisten kann.

Was wären Beispiele für einen gesellschaftlichen Beitrag?
Ein Beispiel: Wir haben gemerkt, dass viele Wirtschaftstreibende sich sehr klar gegen eine Radikalisierung positionieren. Etwa: Wir wollen in unserer Organisation keinen Rassismus. Wir wollen Diversität und Pluralismus. Auch wenn wir uns nicht parteipolitisch als Organisation betätigen.
Aber wir stimmen einem demokratischen, liberalen Grundkonsens zu. Und dafür engagieren wir uns auch. Zum Beispiel mit Statements zur Aufnahme von Geflüchteten – nicht nur aus der Ukraine, sondern auch aus anderen Regionen. Oder mit konkreten Programmen in der Lehrlingsausbildung oder im Recruiting, wo es um Integration in der Organisation geht.
Da ist sicher auch ein wirtschaftlicher Bedarf und ein Nutzen, wenn man Arbeitskräfte braucht. Aber ich habe viele Wirtschaftstreibende erlebt, die nicht opportunistisch vorgehen, sondern die sich aus einer bürgerlichen demokratischen Gesinnung heraus positionieren.
Kürzlich gab es erschütternde Wahlergebnisse in Deutschland oder in Nachbarländern. Und ich glaube, dass Unternehmen bei aller tendenziellen Radikalisierung oder zumindest sehr starken Emotionalisierung eine Möglichkeit haben und bieten, eine integrative Kraft zu entfalten. Wenn ich im Arbeitskontext mit Kollegen und Kolleginnen aus anderen Kulturkreisen, Religionen, Altersstufen, Gender… fruchtbar und produktiv zusammenarbeiten kann – warum sollte ich es in meiner Nachbarschaft oder in meinem Bezirk anders erleben?
Organisationen können Grundwerte des Zusammenlebens fördern.

 Sie waren bei der SWITCH Bewegung für Planetare Bildung an der Universität Witten/Herdecke (UW/H) beteiligt…
Das wäre mein zweites Beispiel gewesen: Welche Verantwortung haben Unternehmen im Hinblick auf ökologische Nachhaltigkeit? Das ist eine Frage, die mich persönlich sehr beschäftigt. Da sollte man den multiplikativen Faktor von Organisationen nicht unterschätzen.
Nachhaltigkeit ist der bekannteste Begriff. Aber da wir bereits über etliche planetaren Grenzen hinausgeschossen sind, geht es dabei um regeneratives Wirtschaften, also die Reparatur bereits eingetretener Schäden. Die Begriffsdiskussion ist hier nebensächlich. Für mich ist klar: Es muss mit aller Kraft in Richtung nachhaltiges Wirtschaften gehen. Denn es ist in Bezug auf manche Dinge wirklich zu spät, und in Bezug auf manche Dinge wirklich höchste Not. Ich glaube, dass das Thema ökologische Nachhaltigkeit, die aber mit einer sozialen Nachhaltigkeit Hand in Hand gehen muss – auch das ist vollkommen klar –  die größte globale Herausforderung ist.

Welche Hebelwirkung kann eine Bewegung wie SWITCH haben?
Wir waren sehr froh von der SWITCH-Konferenz zu hören, denn Bildungseinrichtungen wie Witten können einen riesigen Beitrag leisten.
Weil sie verschiedene Systeme wie Forschung, wie Wirtschaft, junge Menschen (denen es auch darum geht, ein eigenes Wertekonstrukt für sich zu entwickeln) in einen Dialog bringen können, der sonst oft sehr abgekapselt stattfindet. Oder als breiter gesellschaftlicher Diskurs, wo wir nur Rezipienten sind – deshalb sind wir sehr vorsichtig mit Konferenzen, die aus einer Aneinanderreihung von Keynote Speakers bestehen.
Wenn es um Räume der Begegnung geht, dann ist SWITCH ein sehr gutes Format, weil es um einen Wertewandel geht, in dem wir mittendrin sind. Das wird uns alle massivst beschäftigen. Es geht um gesellschaftliche Transformation, aber eben auch um organisationale Transformation und ebenfalls um individuelle Transformation. Wir müssen das auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig bespielen. Deshalb brauchen wir nicht nur Diskurse, sondern besondere Dialogräume. 

Matthias Lang, Dwarfs and Giants Wien (c) Maria Noi
Matthias Lang, Dwarfs and Giants Wien (c) Maria Noi

Was war Ihr Beitrag bei der diesjährigen SWITCH-Konferenz?
Mein Kollege Steffen Frischat gab einen Workshop namens SDG Game, ein Simulationsspiel.  Das ist für mich ein schönes Beispiel, denn es braucht mutmachende Erlebnisse. Neben der all der Bedrohung und der Klima-Angst braucht es die Ermutigung, dass wir das gemeinsam wirklich angehen können.

Sie haben bereits in der Vergangenheit mit der UW/H kooperiert, übrigens auch mit einem Planspiel – welche Rolle spielen innovative Methoden?
Spiele wie das SDG Game oder unser Planspiel in einer Minecraft-Umgebung bringen mich entweder in einen Blank Space, oder in einen New Space. Dwarfs and Giants versteht sich als Lab. Es ist ein Platz, wo wir etwas Neues und uns selbst ausprobieren können: Ich kann mich dabei beobachten, wie ich anders handle. So kann ich ein anderes Verständnis von mir selbst & von Situationen entwickeln.
Wie können wir ein paar Dinge ausblenden, oder eine freie weiße Leinwand haben, einen White Screen, sodass wir neue Bilder drauf projizieren können?
Wenn wir in Transformationen hineingehen wollen, brauchen wir ein solches Umfeld. Wir müssen Orte schaffen, wo Ent-Lernen und Neu-Lernen möglich ist – idealerweise in einer lustvollen Art und Weise. Wo lernen spielerisch Spaß machen kann. Das ist oft sehr aufwändig, aber das ist eine Grundhaltung. Deswegen arbeiten wir gerne mit Humor. Durch Humor komme ich in eine Haltung rein, die es mir ermöglicht, mich selbst in meiner Rolle nicht so ernst zu nehmen – oder mit der ein oder anderen Unsicherheit mit einem Lächeln zurechtzukommen.

Aktuell merken wir eine gewisse Vorsicht in Organisationen – eine Rückkehr zu den guten alten, altbewährten Management-Methoden. Ansätze wie ‚New Work‘ werden nicht mehr so experimentierfreudig gesehen. Wie erleben Sie das und was würden Sie dem entgegensetzen?
Was auch immer New Work ist… Für manche ist New Work virtuelles Arbeiten, für andere wiederum ein Tischfussballtisch.
Aber Spaß beiseite – ich beobachte das auch so. Es gibt Organisationen, die sehr viel gelernt haben. Durch Corona wurde die Digitalisierung vorangetrieben; aber davor schon haben sich neue Formen der Zusammenarbeit in vielen Organisationen etabliert. Wir dürfen nicht vergessen, dass es tatsächlich um ganz neue Formen des Führens und der Zusammenarbeit geht, die entgegen den bisherigen Normen funktionieren. Das, was wir uns viele Jahre lang angeeignet haben, muss revidiert werden.
Hierzu fällt mir etwas ein. Meine Kinder fragen mich oft: wer ist bei euch der Chef? Daraufhin sage ich: bei uns gibt es keinen Chef. Und sie haben das anfangs überhaupt nicht verstanden. Denn bei ihnen, ob in der Klasse, im Kindergarten, im Sport, gibt es immer einen Chef. Das hat mich fasziniert, aber auch ein bisschen betroffen gemacht. Mit welcher Selbstverständlichkeit ein 5-jähriges Kind verinnerlicht hat: Es gibt immer einen Chef.
Wenn das von klein auf in unserer Gesellschaft so vermittelt wird, dann ist es klar, dass wir uns alle mit 25 in hierarchischen Organisationen sehr gut orientieren können. Auf der Uni gibt es Assistentinnen, Professoren, Rektorinnen…Wenn wir das anders denken und praktizieren wollen, braucht es mindestens so viele Jahre. So gesehen, sind 5 oder 10 Jahre eines Umlernens innerhalb einer Organisation wenig. 

 Sind Organisationen also auf gutem Weg zu einer demokratischen Transformation?
Organisationen haben sich bereits auf den Weg gemacht, auch auf symbolischer Ebene tut sich etwas. Wir kennen die Diskussion, ob Krawatte getragen werden muss, ob man Mitarbeitende duzen muss oder nicht. Das sind Symbole, die aber für etwas stehen.
In vielen Bereichen wird es immer selbstverständlicher, dass man auf Augenhöhe arbeiten möchte; auch wenn es nach wie vor unterschiedliche Verantwortungsbereiche gibt.Das passiert zwar in unterschiedlichen Geschwindigkeiten und Ausprägungen; aber als gesamtgesellschaftliches Phänomen ist es unaufhaltsam.

Wie lässt sich aber erklären, dass einige sich von ‚New Work‘ abwenden?
Was ich aktuell erlebe, ist, dass einige wenige Organisationen zu sehr in ein anderes Extrem geschwungen sind. Deshalb müssen sie nachjustieren.
Beispielsweise entdecken sie gute alte Führungswerkzeuge wieder, wie Zielsetzungsmethoden; solche Werkzeuge waren nicht schlecht; sie müssen nur angepasst und integriert werden, damit die Organisation nicht in einen Systemwiderspruch gerät.
Es braucht an der einen oder anderen Stelle eine Synthese von alten Methoden und neuen Ansätzen.

Sie haben einige Organisationen begleitet, in denen Chefs und Firmeninhaberinnen beschlossen haben, sich selbst abzuschaffen. Wie stellt man sich das vor?
Die Schwierigkeit bei der klassischen Management-Hierarchie ist nicht die Ordnung. Denn auch in selbstverwalteten Organisationsformen gibt es Ordnungen. Das ist gut so, denn es ist erforderlich, um eine Gesamtperspektive einzunehmen und damit eine Organisation funktionieren kann.
Denn nur so können Steuerungsimpulse in Organisationen wirksam werden. Das ist an sich kein Problem.
Das Problem ist, dass wir in klassischen Management-Hierarchien Über- und Unterordnungen von Menschen hatten. So ergeben sich persönliche Abhängigkeiten. Ich bin als Dein Vorgesetzter, wenn nicht alleinverantwortlich, dann spielentscheidend: Wie viel Du verdienst, ob Du hier weiterarbeiten darfst, ob Du Karriere machen wirst, ob Du eine Weiterbildung machen wirst, welche Aufgaben Du bearbeitest, wann Du Urlaub nehmen darfst… (je nach Organisation).  Das hat historisch gesehen seine Berechtigung. Aber das ist eine Kulmination von ganz viel Verantwortlichkeit für andere Menschen, die nicht mehr zeitgemäß ist.
Positiv formuliert ist es die Fürsorgepflicht, die ich für den Mitarbeiter habe. Das stammt aus der Industrialisierung – einer Zeit, wo es noch enorme Bildungsunterschiede gab. Es hat etwas vom Vasallen-System. In klassischen Organisationen hat die Form eines absolutistischen Systems überlebt, eine Über- und Unterordnung von Menschen, in einer sonst demokratischen pluralistischen Gesellschaft. Das ist eigentlich erstaunlich. 

Kann eine Organisations-Führung ohne Führungskraft überhaupt funktionieren?
Da gibt es mittlerweile sehr viele funktionale, erprobte Lösungsansätze. Führung kann stärker auf Kompetenzen, Spezialisierungen oder Zuständigkeiten beruhen. Es muss nicht mehr alles von einer mir vorgesetzten, übergeordneten Person entschieden werden. Die Person, die sich dann nach mir richten muss, trifft in einer anderen Rolle eine andere Entscheidung – wir führen uns wechselseitig. Nach dem Motto: ‚Happy to follow another role’s lead‘ (das wäre im rollenbasierten-Setup). Das ist gegenseitige Führung sozusagen.
Das Verfügen über andere Menschen kann abgeschaltet werden. Und das Schöne ist: Wir sehen, dass Organisationen weiterhin sehr gut funktionieren können.

Gibt es weitere Herausforderungen, die Organisationen bewältigen müssen, um Zukunft mitzugestalten?
In den letzten Jahren haben wir das Prinzip von Augenhöhe organisations-intern betrachtet. Dieser Horizont ist künstlich und kann erweitert werden: Wir müssen auch Menschen außerhalb der Organisation berücksichtigen.
Damit wird es beliebig komplex. Alle werden überfordert und müssen Werkzeuge finden, um diese Komplexität zu bewältigen.  Ich würde mir wünschen, dass die Grenzen zwischen for-profit- und not-for-profit-Organisationen verschwinden. Als Organisation brauche ich einen gesunden Stoffwechsel, um voranzukommen. Gleichzeitig stellt sich die Frage: Wo fließen die erwirtschafteten Mittel hin, wozu wollen und müssen wir beitragen? Hierzu braucht es auch ein tiefgreifendes Umdenken. Nur so können das opportunistische, fast egoistische Ausnutzen von Ressourcen und Möglichkeiten und damit einhergehend die Schäden für Organisationen, Menschen und Umwelt, eingeschränkt werden.

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