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Mehr als „Streitkultur“: Über den Konflikt in der Urkaine, „kollektive Achtsamkeit“ und dialogische Kompetenz. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Kazuma Matoba (UW/H)

"Dialogische Kompetenz zu erwerben, ist wie ein Berg zu erklimmen"

Für unsere neue Reihe mit ZukunftsgestalterInnen sprach Sebastian Benkhofer, Leiter Professional Campus und geschäftsführender Direktor WittenLab an der Universität Witten/Herdecke, mit Prof. Kazuma Matoba.

Über „kollektive Achtsamkeit“, „Lernen als Veränderung“, „integrale Führung“ und dialogische Kompetenz als zukunftsweisende Wege zu einer globalen gesellschaftlichen Transformation.

 

Herr Prof. Matoba, seit Beginn des Konflikts in der Ukraine beherbergen Sie eine Kollegin der Universität Kiew bei sich zu Hause. Zu Beginn des Krieges war die Öffentlichkeit von Bildern und Eindrücken überwältigt. Spontan wären viele von uns dazu bereit gewesen, geflüchteten Menschen aus der Ukraine zu helfen. Doch auf Dauer lässt dies nach; die allermeisten kehren in ihren Alltag zurück und kehren der Krisensituation den Rücken — teils aus Selbstschutz.

Braucht unsere Gesellschaft eine neue kollektive Achtsamkeit?

Seit 2017 beschäftigt ich mich mit einem wichtigen Thema unter diversen Forschungsrichtungen: ‚Global Social Witnessing’ als eine Methode kontemplativer sozialer Kognition zur Förderung einer neuen kollektiven Achtsamkeit. Wenn wir in den Nachrichten leidende Menschen sehen – wie Kinder in Hungersnot in Afrika oder eine weinende Mutter mit ihrem getöteten Kind in der Ukraine –, fühlen wir uns betroffen und können uns in diese Menschen einfühlen. Dies geschieht häufig, der Eindruck bleibt aber nicht dauerhaft, weil es uns einfach zu viel wird und wir uns nicht immer damit beschäftigen möchten. So können wir ohne berührt zu werden unsere alltäglichen Aufgaben erledigen. „Trotz der Tragödien der Welt ist mein Tag heute in Ordnung.“ Diese Alltagsgedanken sind tief in einem individualistischen Dualismus verwurzelt: Ich und die Welt sind voneinander getrennt. Durch Klimawandel bzw. die Klimakatastrophe beginnen wir allmählich zu begreifen, dass es sich dabei um die Konsequenz unseres Konsumverhaltens handelt. Über diese wichtige Lektion hinaus müssen wir in eine nächste Evolutionsphase eintreten, wo wir alles als Konsequenz unseres Denkens und Handelns betrachten können. Denn wir sind miteinander und mit der Welt verbunden. So können wir leidende Menschen im Glauben bezeugen, dass wir nicht von ihnen getrennt sind, sondern wir und sie zu einem großen System gehören. Von dieser Perspektive aus können wir eine ‚neue kollektive Achtsamkeit’ definieren und praktizieren. So wie wir bei Meditation mit dem Körper, den Gefühlen und dem Geist achtsam umgehen, können wir durch ‚Bezeugen’ kontemplativ anderen Teilen unseres ganzen ‚sozialen Körpers’ Aufmerksamkeit schenken.

 

 

Sie blicken auf eine langjährige Lehr- & Forschungstätigkeit zurück. Seit mehreren Jahren sind Sie Dozent & Professor für Interkulturelle Bildung an der UW/H. Wie wichtig ist interkulturelle Bildung für den Zusammenhalt in Organisation und Gesellschaft?

Der Krieg in der Ukraine wurde vom konservativen Flügel der Gesellschaft als eine Bestätigung der These vom drohenden „Kampf der Kulturen“, die der US-Politologe Samuel Huntington 1993 aufgestellt hatte, gesehen. Vor seiner reduktionistischen Kulturdefinition, die auch in Theorie und Praxis des interkulturellen Trainings noch dominant ist (z.B. Kulturstandard und Kulturdimension), warnte Amartya Sen und kritisierte die Illusion der Singularität der Identität. Ein Mensch ist als Individuum mit vielen Zugehörigkeiten oder als Mitglied vieler verschiedener Gruppen zu betrachten. Wie kann man seine eigenen multiplen Identitäten erkennen und gleichzeitig die Identitäten der anderen erkennen und anerkennen, um die Zuschreibung und Zementierung ‚einer einzigen’ kulturellen Identität zu vermeiden? Ein neuer Ansatz des interkulturellen Trainings muss Trainees darin unterstützen, ihre multiplen sozialen Identitäten zu erkennen und darüber hinaus ihre persönlichen Identitäten zu entdecken.

Der Lernprozess eines solchen Trainings ist ein transformativer Lernprozess, in dem „Lernen als Veränderung“ stattfindet. Die Theorie des transformativen Lernprozesses liefert eine theoretische Grundlage des neuen Konzeptes des interkulturellen Trainings, das postuliert, dass die Rekonstruktion der Identität durch Bewusstseinstransformation möglich ist. Diese Transformation kann durch ein interkulturelles Training vor dem Auslandseinsatz oder -studium der Mitarbeitenden /Studierenden effizienter gefördert werden, indem man die kulturelle Prägung beim Verhalten, den Fähigkeiten, den Glaubenssätzen und Identitäten in der Schwebe hält. Aus meinen vergangenen Forschungen und Lehren an der Universität der Bundeswehr in München habe ich konkrete verschiedene Trainingsmethoden zur Förderung der ‚globalen integralen Kompetenz’ konzipiert und entwickelt, bei denen es darum geht, die Vielfalt der Identitäten des Eigenen und Anderen als integrale Teile eines größeren Systems wahrzunehmen und darüber hinaus ein solides Fundament der Friedensatmosphäre in Postkriegsgebieten zu etablieren.

 

Im Hinblick auf Krisenbewältigung und -Vorbeugung wird in vielen Organisationen der Versuch unternommen, eine „Streitkultur“ einzuführen.

Doch gerade in bereits eskalierten Konfliktsituationen merkt man sehr häufig, dass eine solche Streitkultur nicht mehr hilft. Sie kann in solchen Fällen sogar kontraproduktiv sein. Schlicht formuliert: Das ‚Gerede‘ hilft nicht weiter. Standpunkte und Argumente, seien sie noch so gut artikuliert, werden überhört oder abgetan. Den Friedensabsichten zum trotz werden in Mediationsverfahren organisationale Wunden offengelegt. Wie geht man damit um: Was kann der Integrale Führungsansatz was eine „Streitkultur“ alleine nicht kann?

Martin Buber unterscheidet drei Formen der Kommunikation: Monolog, technischer Dialog und Dialog.

Monologe sind selbstzentrierte und technische Dialoge sind informations-zentrierte Konversationen, zu denen die Kommunikation der „Streitkultur“ gehört.

In einem Dialog, der die Kommunikation zwischen Individuen beinhaltet, spielen Kontrolle und Dominanz über den anderen eine minimale Rolle. Aus Bubers Sicht müssen Individuen für eine dialogische Kommunikation einen ‚schmalen Grat’ beschreiten. Der ‚schmale Grat’ liegt zwischen den Teilnehmenden eines Dialogs – die gemeinsame Sphäre des ‚Dazwischen“, in der Person A und B kreativ und dynamisch aufeinandertreffen und miteinander kommunizieren können, in der ausschließlich weder die Perspektive von A noch die von B, sondern vielmehr eine dritte Perspektive repräsentiert wird. Eine wichtige Führungskompetenz ist die Schaffung der gemeinsamen Sphäre des ‚Dazwischen‘, in der die dialogische Kommunikation praktiziert wird. Ich bin der Ansicht, dass ein Dialog erfolgreich voranschreiten kann, wenn die Teilnehmenden fähig sind, die folgenden Kernfähigkeiten einzuhalten:
(1) die Haltung eines Lernenden annehmen;
(2) großen Respekt für den Partner haben;
(3) offen sein;
(4) aufrichtig sprechen und sich kurzfassen;
(5) sorgfältig dem anderen zuhören;
(6) sich von Annahmen und Urteilen freimachen;
(7) sich konstruktiv verhalten;
(8) sich neugierig verhalten;
(9) den Beobachtenden zu beobachten.

Mit dieser Dialogkompetenz ist man fähig, effektiv an der Kommunikation und dem kollektiven Denken teilzuhaben. Kollektives Denken strebt die Transformation des Bewusstseins an, individualistisch und kollektivistisch. Ideale Kommunikation ist sowohl individualistisch als auch kollektivistisch.

In individualistischen Kulturen ist es eine primäre Funktion von Kommunikation, die eigenen Ideen und Gedanken so klar, logisch und überzeugend wie möglich auszudrücken, so dass man den Sprecher ganz aufgrund seiner Individualität bei der Beeinflussung anderer und aufgrund seiner selbst-motivierten Absichten wahrnimmt. In kollektivistischen Kulturen ist Kommunikation nicht vom Kommunikationskontext zu trennen, der die Charaktere der Parteien und die Art der interpersonellen Beziehung zwischen ihnen einschließt. In dieser kollektiven Annäherung an Kommunikation bewahrt verbale Kommunikation hauptsächlich die Funktion der Steigerung kollektiver Integration und Harmonie als die Individualität des Sprechers zu fördern und neigt daher dazu, Argumente und Überzeugungen auszulassen.

Kollektives Denken als Hauptkonzept des Dialogs schafft einen Ausgleich zwischen individualistischer und kollektivistischer Kommunikation, und es kann demonstrieren, wie man in die Sphäre des ‚Dazwischen’ eintritt.

 

Abschließend: Was sind Voraussetzungen guter (gelungener) interkultureller Kommunikation und welchen Rat möchten Sie angehenden Führungskräften und ZukunftsgestalterInnen mitgeben?

Der Prozess, die dialogische Kompetenz zu erwerben, ist wie einen Berg zu erklimmen. Erreicht man den Gipfel des Berges, sieht man all die Pfade, die von unten herauf zum selben Gipfel führen und dass jeder Pfad unterschiedlich ist. Das ist in gewisser Weise ein Prozess der Selbstbefreiung von einer begrenzten Sichtweise von Kommunikation. Einige dieser zehn Kernfähigkeiten mögen von kulturellen, soziokulturellen und psycho-kulturellen Unterschieden betroffen sein. Für manche Menschen ist es schwer, sich von Vorannahmen und Urteilen frei zu halten oder sich konstruktiv einzubringen. Wenige Menschen sind willig ihre Überzeugungen aufzugeben.

Ich denke, dass die dialogische Kompetenz kollektiv-kulturell und individuell determiniert und eingeschränkt ist, was teilweise aus kollektiven Traumata resultiert.

Viele Traumatherapeuten und Forscher bestehen darauf, dass kollektive und individuelle Traumata miteinander verschränkt sind. Die Verschränkung, die oft unbewusst ist, beeinflusst kollektive und individuelle Verhaltens- und Kommunikationsweisen in einer post-traumatisierten Gesellschaft. Die unbewusste Verstrickung kann als eine soziale Form der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) interpretiert werden, die sich in sozialen Symptomen zeigt wie zum Beispiel: dem sozialen Druck zu Schweigen, Pseudosicherheit, Pseudoharmonie, Konflikten und stellvertretenden Traumata wie Polarisierung.

Ich bin der Meinung, dass sich die dialogische Kompetenz durch die erfolgreiche Integrationsarbeit kollektiver Traumata jenseits aller kulturellen Determinierungen und Einschränkungen entfalten kann. Dafür arbeite ich mit meiner neuen Forschungsaufgabe „Global Social Witnessing and Collective Trauma Integration“ zusammen mit Prof. Dr. Tobias Esch und Dr. Thomas Hübl im Witten.Lab – Zukunftslabor der Universität Witten/Herdecke.

 

Danke für das Gespräch!

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