Es ist Anfang August 2021 und ich sitze am Meer und lese Zeitung. Im Strandkorb auf der autofreien und absolut entschleunigenden Nordseeinsel Juist. Seit 45 Jahren ist dieses 17 Kilometer lange Eiland fast jeden Sommer für einige Wochen meine zweite Heimat geworden. Das liegt zum einen an dem endlosen feinen Sandstrand, dem ruhigen Getrappel der Pferdehufe, die hier das Auto ersetzen, und auch an den Menschen, mit denen ich diese Inselliebe seit vielen Jahren teile.
Und dann ist da noch etwas: In dem Moment, in dem ich von der Fähre auf die Insel gehe, beginnt mein Rucksack an Arbeitsstress, Verpflichtungen und Termindruck leichter zu werden, und mein Lebensgefühl wird lebendiger und der Kopf freier. Je nachdem, wie „hart“ das Arbeitsjahr war, spüre ich diese Veränderung intensiver.
Was ist mein Reisegepäck durchs Arbeitsleben?
Genau aus diesem Grund habe ich vor zwei Jahren ein Experiment gewagt. Meine persönliche „Forschungsfrage“ lautet: Wie sieht ein Arbeitsleben aus, das gut zu meiner zweiten Lebenshälfte passt? Nach 16 Jahren als Angestellte in der Wirtschaft war ich bereit für eine Veränderung. Heute bin ich selbstständig und habe den Eindruck, mein neues Arbeitsleben scheint zu mir zu passen. Der Rucksack ist leichter geworden – auch wenn ich nicht weniger arbeite als vorher. Es hat sich viel verändert. Mein Experiment geht weiter. Denn es sind noch viele Fragen offen – persönlich und gesellschaftlich: Was für eine Arbeitskultur passt eigentlich zu uns Menschen? Wie können wir die Arbeit der Zukunft neugestalten?
Ein Streifzug durch die Arbeitskultur der Jahrtausende
An diesem warmen Augusttag auf Juist springt mir eine Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung ins Auge: „Je weniger arbeiten, desto besser“. Ein Artikel über die Thesen des Sozialanthropologen James Suzman. Er stellt Fragen, die mich interessieren: „Warum arbeiten wir immer mehr, obwohl wir so viel produzieren wie noch nie?“ Suzman ist Direktor des Thinktanks Anthropos und Fellow am Robinson College der Cambridge University. Sein neues Buch heißt „Sie nannten es Arbeit – eine andere Geschichte der Menschheit“ (C. H. Beck Verlag, März 2021).
Ich kaufe sein Buch und beginne zu lesen. Bei der Erforschung der Jäger- und Sammlerkulturen hat Suzman überraschende Einsichten gewonnen: Mit rund 15 Stunden Nahrungssuche pro Woche sicherten unsere Vorfahren ihr Auskommen. Eine erstaunliche Work-Life-Balance mit anscheinend viel Zeit für Muße. Er beschreibt die Veränderung dieser Arbeitskultur durch den Wandel zur Agrarwirtschaft und die industrielle Revolution bis heute. Und will mit seinen Thesen aufrütteln, damit es uns gelingt „den krakenhaften Klammergriff, mit dem die Knappheits-Ökonomie unser Arbeitsleben im Schwitzkasten hält, zu lockern und unsere damit verbundene, nicht durchhaltbare Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum aufzubrechen“.
Fragen, die bleiben
Seine Thesen sind inspirierend, aber es bleiben viele Fragen offen. Wie kann uns diese Vergangenheit helfen, die Zukunft der Arbeit neu zu gestalten? Wie kann eine gesunde und menschliche Arbeitswelt aussehen? Gesellschaftliche Fragen drängen sich auf.
Ich bleibe dran am Thema – als nächstes liegen auf meinem Lesetisch der Bestseller des Historikers und Zukunftsforschers Yuval Noah Harari „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ (Pantheon Verlag, August 2021) und Maja Göpels „Unsere Welt neu denken“ (Ullstein Verlag, Februar 2020).
Und Sie? Wie sehen Sie die Zukunft der Arbeit?
Kristin Bub ist Wirtschaftspsychologin (M.Sc.) und arbeitet als Trainerin, Beraterin und Coach mit den Schwerpunkten Mindset-Wandel, Kulturtransformation, Mindful Leadership, Resilienz und Konfliktlösung/Mediation.
www.concadora.com
Teilnehmerin im Lehrgang: Train the Trainer für Mindful Leadership
Dozentin im Lehrgang: Systemische Organisations- und Wirtschaftsmediation